Media-Liste: Oktober 2021
 

“Surreal” beschreibt am besten, was ich in diesem Monat gesehen und gelesen habe. Ich bin ziemlich zufrieden mit dem, was meine Neugier ausgewählt hat.

FILME UND SERIEN

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Wahnsinn – darum geht es und das ist es auch, was ich über diesen Film, seine Geschichten in den Geschichten der Geschichten und über die so ins Detail durchdachte Gestaltung des Films - bis hin zum Filmplakat – denke. Man blickt durch anamorphe Vintage-Linsen scheinbar direkt aus dem Kopf des Erzählers in die wie Matroschkas ineinander verschachtelten Erzählungen. Ich fühlte mich wie auf einem irren Trip, bei dem ich Fiktion und Realität kaum noch unterscheiden konnte: Slapstick mischt sich mit Splatter, Drama und Thriller. Ein surreales Filmkunstwerk mit einem tollen Farbpalette, was an manchen Stellen so hässlich ist, dass man wegschauen möchte – aber nicht kann.


Die Höhle der vergessenen Träume
Mit einem maximal reduziertem Team und Equipment führt Werner Herzog entlang eines schmalen Eisenstegs, den keiner beim Dreh verlassen durfte, durch die Chauvet-Höhle und baut eine Stimmung auf, die in ihrer Schönheit kaum auszuhalten ist. Die Zeichnungen sind so einfach und gleichzeitig so lebendig in ihrer klaren naturgetreuen Darstellungen. Unten am Boden finden sich in feinem Sand Fußspuren von Menschen und Tieren, als wären sie gerade erst noch da gewesen. Mir stockt der Atem. Wie es wohl war, in dieser Höhle nur mit Fackel als Filmprojektor, vor 30.000 Jahren eine Geschichte erzählt zu bekommen? Im Flackern des Lichts müssen die mit Fingern an die Felsen gemalten Höhlenbären und Wollnashörner gewirkt haben, als würden sie sich bewegen.

BFG - Sophie und der Riese
Es war das Wörtchen “E.T.” auf dem Cover, was mich davon überzeugte, den Film mitzunehmen. Außerdem klang “Big Friendly Giant” nach einem sympathischen Zeitgenossen. Und ich bin mir sicher, in Roald Dahls Buchvorlage ist er das auch. Doch wie bei den Figuren im “Polarexpress” ist BFGs liebevoller Charakter Uncanny-Valley verloren gegangen. Ein unheimlicher, seelenloser Riese. Auch seine Animation war ungewöhnlich – als wäre er leicht wie eine Feder. Das Buch ist ganz sicher ein größerer Genuss.


I Kill Giants

Ein Riese kommt zu dir und nimmt dir alles weg. Und wenn er fertig ist, ist es als wäre alles, was je in deinem Leben gut war, überhaupt nie da gewesen.

Madison Wolfe als Barbara in “I Kill Giants”

Wenn so ein Gigant dir gegenüber steht, kannst du den Weg des Feiglings wählen oder kämpfen. Barbara macht beides: Sie flüchtet in ihre Geschichten und schmiedet dort Fallen und Waffen, die beeindruckend sind - und es auch bis in die reale Welt schaffen. Barbara selbst ist jedoch so anstrengend anders – wenn auch fantastisch von Madison Wolfe gespielt –, dass es mir wirklich schwer fiel, sie und ihre Probleme ernst zu nehmen. Der zweieiige Story-Zwilling “7 Minuten nach Mitternacht” gefiel mir da deutlich besser.

The Square

“Sie misstraut offiziellen Titeln und Bezeichnungen und beurteilt Menschen lieber nach ihrem Empathievermögen.”

Robert Macfarlane über Maria Carmen in “Im Unterland”, S. 214

Mir geht es genauso. Zu oft sind es nur Fatzken: Menschen, die in Blasen leben, welche von innen verspiegelt sind. Es ist erschreckend, dass gerade ein Museumkurator sich so gut für diese Rolle eignet. Vor allem dann, wenn er eine Ausstellung über unsere Vorurteile und Ängste gegenüber Fremden inszeniert. Auf eine menschlich nicht ganz feine Weise macht es Spaß, ihm dabei zu zu sehen, wie er mit seiner Installation seine eigene Lächerlichkeit in köstlichen Szenen offen legt. Der Film passt bedenklich gut zu Citizen Kane und 39,90.


Sorry We Missed You
Ich war wütend nach diesem Film. Ich war wütend auf meine bestellsüchtigen Nachbarn, auf Amazon und Krankenversicherungen.

“Die Arbeit ist als körperliche Betätigung gedacht, keine den Menschen zerschindende, sondern eine vitalisierende Bewegungsform.”

Frank Berzbach, Die Form der Schönheit

Was tun wir einander an und wer ist Schuld daran? Nicht als Extremfassung, sondern so unaufgeregt, dass es fast schon dokumentarisch-genau wirkt, beobachtet man eine Familie, deren Alltag durch Schulden zur reinsten Krise wurde. In den prekären Jobs, auf die sie jetzt angewiesen sind, verlieren sie mehr, als zu gewinnen. Die von Laien besetzten Rollen verhindern, dass die Realität zur Fiktion wird. Das macht es unangenehm – ich möchte eingreifen, irgendwas tun, mehr als nur 100 Minuten zu zuschauen und zu hoffen.

The Undoing (6 Folgen)
Wenn eine dänische Proudzentin wie Susanne Bier (“Nach der Hochzeit”) einen amerikanischen Roman mit Nicole Kidman, Hugh Grant (Team Cleaver!) und Donald Sutherland als Serie adaptiert, kann man das, was dabei herausgekommen ist, am besten als Skandi-Film-Noir-Thriller bezeichnen. Die Story ist nicht besonders: reiche Menschen und ihre zwischenmenschlichen Ekelhaftigkeiten. Die Inszenierung ist aber schauspielerisch überzeugend verwirrend und besonders fotografiert. Es ist das karge Licht und diese Spielzeugwelt-Einstellung, die einen immer wieder daran erinnert, noch etwas genauer hinzuschauen.

“You speak of ugliness. You have not yet met ugliness.”

Donald Sutherland als Franklin Reinhardt in “The Undoing”

BÜCHER

Im Unterland von Robert Macfarlane (S. 206/499)
Ich habe eine wortwörtlich atemberaubende Expedition durch die Pariser Unterwelt hinter mir. Sie liegt quasi wie eine Art Spiegelung unter der Oberfläche der Stadt, mit Plätzen und Straßennamen – das unterirdische Paris. Seit den 50er Jahen ist es illegal hier runter zu kommen, nur die Katakomben sind noch als Touristenattraktion zu besuchen. Und trotzdem trifft man so Einige im gesamten Pariser Unterland-Labyrinth. Eine Gruppe davon sind Urbexer wie auch Lina und Jay, die Robert Macfarlane hier durch führen. Früher war das eine Bergbaustätte, ein Versteck, Gefängnis, Lehrraum. Heute ist sie vor allem ein Ort für Menschen, die hier unten im Verborgenen eine andere Identität leben möchten als oberhalb von der Straße.


Bird by Bird von Anne Lamott (S. 75/220)
Ich bin jemand, der mit Bleistift liest und versuche die Sachen, die ich für besonders wertvoll empfinde, durch Unterstreichungen irgendwie in dem Sieb in meinem Kopf zu behalten. Wenn Anne Lamott so weiter macht, ist das Sieb bald voll. Nahezu jeder Satz enthält meist in Kombination mit einem guten Witz so viel nützliche Infos, dass auf manchen Seiten nur noch einzelne Wörter ohne Unterstreichung da stehen. Das Kapitel zum Thema “Dialog” fand ich besonders spannend. Man denkt beim Lesen von Büchern gar nicht so bewusst darüber nach, was er für eine Wirkung auf einen hat - aber ja, doch, die Wirkung ist enorm. Der Dialog profiliert die Figur am intensivsten.

Die Bäckerei-Überfälle von Haruki Murakami (Komplett)
Ich gehöre zu den Menschen, die, wenn sie erst einmal Hunger haben, ziemlich unangenehm werden können. Vermutlich hat man mir deshalb dieses Buch geschenkt. Ich weiß noch nicht, ob das eine gute Idee war. Auf nur 80 Seiten und ermutigt mich Herr Murakami trocken-witzig dazu, doch einfach mal auf mein Bauchgefühl zu hören. Vor allem dann, wenn es von einem Vakuum erzeugt wird. Das Buch über die surrealen Fantasien (und Realitäten) im Hungerwahn wird von fantastischen Illustrationen der Künstlerin Kat Menschik begleitet, die in Gold und an Blut erinnerndes dunkles Rot gedruckt sind.


GAMING

Tomb Raider (40%) (PS3)
Kein großer Fortschritt, aber immerhin konnte ich einen Großteil meines Teams aus den geothermalen Kavernen befreien und auch Sam endlich retten. Dann ist auf einmal alles eingestürzt, der ganze Palast steht in Flammen und ich muss mich mal wieder allein nach draußen kämpfen. Im Menü habe ich interessante Belohnungen für meinen Spielerfolg entdeckt: Konzeptzeichnungen aus der Entwicklungsphase des Spiels.


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