Das Foto mit dem Auge
 

Als mich neulich auf dem Weg zum Supermarkt ein feinsäuberlich aus einer Zeitung herausgetrenntes Auge vom Bordstein aus anstarrte, war das nicht die beste Situation für mich. Die Welt zu beobachten und Mikrogeschehnisse zu bemerken, fasziniert mich. Beobachtet mich jedoch die Welt, werde ich etwas verklemmt in meinem Verhalten. Das Papierauge wirkte faszinierend und bedrohlich zugleich auf mich. Ich blieb stehen, starrte zurück und dachte nach. Es passt gut zu den Themen mit denen ich mich beschäftige. Ich hätte dieses Schnipsel Mensch wirklich gern fotografiert. Die Kamera steckte in der Hüfttasche und wartete nur darauf, ihren Blick auf irgendetwas zu richten. Aber da war nicht nur dieses Papierauge, was mich anstarrte, sondern in meinem Rücken auch noch paarweise im morgendlichen Berufsverkehr festeckende Augen aus Fleisch und Blut. Die Anzahl an Augen, die hier gerade auf mich gerichtet waren, waren mir also eindeutig zu viele. Sie verklemmten mich.

Ich ging weiter - und ärgerte mich darüber, dass die mir fehlende Gleichgültigkeit in solchen von Beobachtung geprägten Situationen, mich dieses wirklich gute Fotomotiv kosten sollte. Und das gleich zweimal. Trotz Wind begegnete ich dem Schnipsel Mensch auf dem Rückweg nämlich wieder. Es hat sich augenscheinlich keinen Milimeter bewegt. Die sich stauenden Augenpaare leider auch nicht. Ich starrte nicht zurück und ging ohne stehenzubleiben und ohne den Auslöser zu drücken wieder daran vorbei. Zu meinem Glück bin ich ziemlich vergesslich und hatte die vertanenen Chancen noch bevor ich zu Hause war, mit neuen Eindrücken überspielt, nachdem ich sie in die Schublade “Inspirationen für Illustrationen” verstaute.

Es muss am übernächsten Tag gewesen sein, als ich mich auf den Weg machte, die vergessenen Einkäufe nachzuholen und ich wieder an der gleichen Stelle vorbeikam. Dazwischen lag also mindestens ein windiger Herbsttag. Und auf dem Bordstein lag immer noch dieser Schnipsel Mensch. Es starrte mich immer noch an, als würde es sagen “Na nun mach doch endlich.” Das beeindruckte mich und ich machte es endlich, ohne zu zögern, dieses Foto, was zum Titelmotiv der Septemberausgabe meines "10 Dinge”-Newsletters wurde.

Auf dem Weg zurück begeneten wir uns nicht noch einmal. Der Wind hat aus dem Schnipsel Mensch ein gewöhnliches Schnipsel Zeitung gemacht. Er hat es einfach umgedreht. “chance” steht im Englischen für Zufall.

Sometimes you have to listen to chance. You have to look at the crack in the wall. You might follow the crack and be surprised to find a picture in it. It’s like the children’s game of looking at a cloud and seeing an image, say, of a sheep, in the shape of the cloud.

Eric Carle im Interview mit Leonard S. Marcus
in “Show Me A Story”


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